100 Jahre Staatsschauspiel

100 Jahre | Das Staatsschauspiel Dresden feiert sein Schauspielhaus

Ansgar Prüwer & Bettina Katja Lange | Studiengang Bühnen- und Kostümbild an der HfBK Dresden
konzipieren einen Rundgang quer durch Haus und Geschichte
mit Tanja Berndt, Maira Bieler, Juliette Collas, Franziska Harm, Romina Kaap, Anna Maria Münzner


Künstlerische Betreuung Prof. Barbara Ehnes, Robert Lehniger | Dramaturgie Beret Evensen | Spielzeit 2012/13

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Sonntag, 29. April 2012

PLAYING ROULETTE WITH REALITY - GHOST MACHINE IN THE HEBBEL-THEATER, BERLIN BY: MATTHIAS LILIENTHAL | 2005
  1. Bei einem ersten Treffen mit Janet Cardiff und George Bures Miller schlug ich zwei Projekte vor: eine gute
    und eine blöde Idee. Die gute Idee war die einer Installation in einer Privatwohnung, ein theatralischer
    Parcours in der Art von Jan Hoets Chambres d’Amis. (Bei diesem Projekt 1986 in Gent traten Kunst und
    urbanes Leben in einen unmittelbaren Dialog.) Zudem bot ich ihnen ein Theater an, das so aussieht wie
    das nachgebaute kleine Kino in The Paradise Institute. Nur ein wenig größer: das Hebbel-Theater, ein
    wunderschöner Jugendstilsaal von 1908. Im Grunde der Prototyp für den Kinosaal ihrer Installation.
    Janet antwortete, dass sie die gute Idee nicht mag und die schlechte vorziehe.
    Nach einer Besichtigung des Hebbel-Theaters waren beide begeistert. Auf ihre unauffällige und
    freundliche Art besuchten sie in den nächsten zwölf Monaten immer wieder Vorstellungen, mischten sich
    unter die Besucher, saßen mit großer Begeisterung in einer Loge. Über ihnen schwebten zwei Jugendstil-
    Engel und eine alte Pergamentlampe.
    Spannend wurde nun, wie Künstler, deren Werk wesentlich durch theatralische, inszenatorische
    oder auch cinematografische Elemente geprägt ist, sich auf ein tatsächliches Theatergebäude einließen.
    Sie entwickelten die Idee eines „Videowalks“, mit dem sie früher schon gearbeitet hatten, zuletzt im San
    Francisco Museum of Modern Art. In den Audio- und Videowalks überlagern sich drei Wirklichkeitsebenen:
    der eigene Gang des Besuchers durch die Räume, das Bild der Räume im modifizierten Zustand
    auf dem Display und der Soundtrack, der über Kopfhörer die Zuschauer führt.
    Den Soundtrack, die Audiospur, nehmen Cardiff und Miller mit einer technologischen Erfindung
    aus dem alten Westberlin auf, dem so genannten Rias-Kunstkopfmikrofon. Das ist ein Mikrofon, das
    in einem nachgebildeten menschlichen Kopf steckt. Hört man diese Aufnahmen über einen Kopfhörer,
    haben sie einen ungewöhnlich räumlichen Effekt. Und durch das Zusammenspiel von Bild, Realität und
    ausgeklügelter Raumakustik entsteht eine mächtige Verführungskraft. Einen Audio- und Videowalk zu
    schaffen an einem Ort, der selbst eine Art von Illusionsmaschine ist, hat seinen besonderen Reiz.
    An der Garderobe bekommt man Kamera und Kopfhörer ausgehändigt. Als Erstes erscheint der
    Titel Ghost Machine im Display der Kamera. Elektrogitarrenklänge sind zu hören: Ein Mann trägt einen
    Bewusstlosen auf der Seitenbühne vorbei. Das Bild verlischt. Eine Frauenstimme fragt: „Wo bin ich?“
    Danach erscheint auf dem Display dasselbe Bild wie in der Realität: Zuschauer betreten das Theaterfoyer.
    „Es regnet heute Abend, genau wie er gesagt hat.“ Ein Zuschauer stürzt herein, scheint sich verspätet zu
    haben. Schon in den ersten Sekunden des Videowalks werden fast unterhalb der Wahrnehmbarkeit zwei
    verschiedene Erzählebenen etabliert: Musik und das Schleppen eines Bewusstlosen verweisen auf einen
    Krimi, gleichzeitig beginnt die Vorstellung in dem Theater, in dem man sich gerade aufhält. Die Frau
    spricht von vergessenen Schlüsseln. „Ich denke, die Dinge verschwinden manchmal einfach so, entgleiten
    dem Raum einfach so, um einige Momente später einfach wieder aufzutauchen. Bei mir passiert das ziemlich
    oft.“ Hier erklärt Janet Cardiff scheinbar beiläufig ihr ästhetisches Programm. Eine junge Chinesin
    taucht auf, und man wird aufgefordert, ihren Bewegungen zu folgen. „Ich denke schon länger, dass wir
    Menschen das auch tun. Von Zeit zu Zeit verschwinden. Wir schalten um in einen anderen Raum, in eine
    andere Phase der Zeit.“
    Man folgt der jungen Frau in das obere Foyer, versucht das Bild und die Umgebung in Deckung
    PLAYING ROULETTE WITH REALITY GHOST MACHINE IN THE HEBBEL-THEATER, BERLIN | BY: MATTHIAS LILIENTHAL
    PLAYING ROULETTE WITH REALITY GHOST MACHINE IN THE HEBBEL-THEATER, BERLIN | BY: MATTHIAS LILIENTHAL
    DOWNLOADED FROM CARDIFFMILLER.COM
    zu bringen, geht auf den Balkon, es regnet in Strömen. Jeden zufälligen Zuschauer auf der Straße erklärt
    sie zum Schauspieler ebenso wie die Radfahrerin dort unten. Jedes vorbeifahrende Auto hört man von
    links nach rechts fahren. Auf dem Mittelstreifen steht ein junger Mann. Man soll ihn mit dem Zoom heranholen,
    jetzt erkennt man, dass er der Bewusstlose aus der ersten Szene ist. „Ich habe dich gesucht. Was?
    Unsichtbar werden geht am besten, wenn man sich so gibt, anzieht, bewegt wie jemand anderer ...“, sagt
    er zu der weiblichen Stimme am Handy, um ihr dann mit dem Handy das Geräusch der Autos vorzuführen.
    Dann wird man aufgefordert, ins Foyer zurückzugehen und den Rundgang fortzusetzen.
    Cardiff und Miller spielen mit den Wirklichkeitsebenen: der Walk, die Liebesgeschichte, eine
    philosophische Reflexion über Identitäten. Was man hört, ist das Gelächter der Zuschauer. Die Stimme
    flüstert angestrengt: „Sie müssen mir helfen.“ Die Gitarrenklänge des Anfangs ertönen wieder.
    Beim Herabsteigen der Treppe erscheint die Warnung: „Hier stimmt etwas nicht.“ Alles wird
    blaustichig. Die Menschen im Film sind angezogen wie in den zwanziger Jahren, der junge Mann wird
    festgenommen. Die chinesische Frau steht in einem Abendkleid da, weiß geschminkt. Im Kontrast erscheint
    wieder das leere Foyer. Die Chinesin lockt den Besucher die Treppe herauf, bei einem Halt auf
    einem Treppenabsatz landet man in einem Auto, der Regen prasselt, wieder ein klassisches Krimisujet,
    die Landschaft verschwindet im Nebel. Jetzt geht man allein weiter hinauf zu einer Tür, hinter der schon
    ein Telefon klingelt.
    Die erste Hälfte des Rundgangs spielt immer wieder mit dem Genre des Krimis. Die Atmosphäre
    verdichtet sich zu einer klaustrophobischen Situation, wenn der Besucher einen etwa ein Quadratmeter
    großen Raum betritt, aus dem vier Türen herausführen. Der zweite Teil des Walks bezieht sich mehr auf
    die Metapher des Theaters. Beide Sujets interessieren Cardiff und Miller, um damit zu spielen – und insofern
    interessieren sie sich nicht für Ergebnisse. In einem Moment der Tour begegnet man Janet Cardiff,
    wie Alfred Hitchcock taucht sie in einer Nebenrolle auf. Man geht mit der Kamera in der Hand in eine
    Garderobe, wird vor einen Spiegel geführt und sieht sich selbst. Im letzten Moment erscheint auf dem
    Display das Gesicht zu der Stimme, die man die ganze Zeit gehört hat. Hier geschieht erneut ein Bruch der
    Wahrnehmungsebenen.
    In ihrer Arbeit The Forty-Part Motet, in der der alte geistliche Choral „Spem in Alium“ aus 40
    Lautsprechern ertönt, bestimmt die Position im Raum den Rezeptionseindruck. Bei The Paradise Institute
    vermischen sich Bilder fundamentaler Angst und Krimiszenen. In Ghost Machine wurde das Theater
    selbst zur Erzählung. Der Zuschauer, der den Rundgang macht, wird, wenn er auf der Höhe des Vorhangs
    steht, selbst zum Darstellenden. Er erhält den Applaus, und die Mythen und Ängste sind auch seine eigenen.
    Der Applaus erschallt aber aus einer Loge hinter dem Besucher, die fraglos leer ist: Die Verunsicherung
    der Wahrnehmung ist in immer neuen Spielarten das zentrale Thema.
    Ein wirklich seltsames Phänomen, das ich hier nicht erklären, sondern nur beschreiben kann,
    ist, dass die Zuschauer während des Walks in eine völlig andere Welt versetzt werden. Entscheidend für
    diese Wirkung ist einerseits der erstaunlich realitätsnahe und raumechte Sound. Zum anderen aber legen
    Cardiff und Miller in den Zitaten immer wieder Spuren, die den Theaterkontext dekonstruieren und
    am Ende eine hellwache Illusion erzeugen. Man taucht nach der Tour wie aus einem Wachschlaf, einem
    Traumwandeln auf. Die Wahrnehmung hat sich geschärft, man hat in 25 Minuten einen Krimi gesehen,
    eine Theatervorstellung, und man ist so frisch wie nach einem erholsamen Schlaf genau zur richtigen Zeit
    des Tages, nach einem Wachtraum, nach dem man süchtig werden kann.

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